Öl in schwärender Glut

»Mein König! Mein König, Solim ist verlassen. Das Lager ausgebrannt. Es ist nichts mehr von Wert dort, was sich retten ließe.«
Mit Daumen und Zeigefinger strich Artharion sich den Bart an den Mundwinkeln glatt. »Ich habe verstanden.«
Der Späher schien verwirrt von seiner ruhigen Antwort, schließlich verneigte er sich jedoch und eilte davon.
Artharion, der es sich auf dem Turm des Nachtwächters bequem gemacht hatte, von wo aus er mühelos das Umland überblicken konnte, griff nach dem mit Samt ausgelegten Kästchen und zog das Fernrohr daraus hervor.
»Schickt mir Zorion herauf!«, rief er zu seinen Wachen hinunter, die er angewiesen hatte, am Fuß des Turmes zu warten.
Er richtete das Glas in die Ferne. Dort zog sich, im schwachen Dämmerlicht eines neuen Tages, einem schwarzen Wurm gleich der Tross der Flüchtlinge über die Ebene. Sie waren langsam. Zeit blieb also genug.
Als Artharion das Knarzen der Leiter vernahm, die zu seinem Ausguck heraufführte, ließ er das Fernglas sinken. »Komm herauf, mein Freund.«
Zorion stieg durch die Öffnung und verneigte sich demütig.
»Habt ihr alle Nachrichten abfangen können?«, fragte Artharion.
»Ja, mein König. Zumindest alle, die nach Zessalonn entsandt wurden. Die Falken haben fünf Brieftauben vom Himmel geholt und drei zessalonnischen Reiter sind bis gestern unseren Spionen zum Opfer gefallen.«
Artharion lächelte zufrieden.
Das entsprach der üblichen Anzahl, zumindest wenn die Bücher über die südländischen Taktiken nicht vollkommen falsch waren. Er reichte seinem General das Fernrohr, mit dem er den Flüchtlingsstrom beobachtet hatte. »Wie viel Vorsprung haben sie, was denkst du?«
Zorion warf einen langen Blick hindurch. »Fünfzehn Meilen vermutlich.«
»Schick ihnen fünf berittene Späher nach. Dort unten im Süden müsste es ihnen möglich sein, den Fluss zu über¬queren. Phelyptikaya soll sie begleiten, in derselben Kleidung wie die Späher. Sie sollen den Tross beobachten und dann umkehren.«
»Erlaubt die Frage, mein König: Wozu? Mit Eurem neuen Fernrohr könnt Ihr sie noch ein gutes Stück im Auge behalten.«
Artharion lächelte seinen Berater nachsichtig an. »Aber das wissen die guten Südländer nicht, mein Freund.«
»Ich verstehe nicht.«
»Das musst du auch nicht. Ich gieße nur ein wenig Öl in eine schwärende Glut.«
»Wozu dann die Seherin?«
»Ihr werdet sehen.« Artharion rückte ein wenig auf der hölzernen Bank zur Seite und klopfte auf die freigewordene Stelle.
Zorion verneigte sich. Nachdem er die Befehle an einen Boten unterhalb des Turmes weitergegeben hatte, kehrte er zu ihm zurück und setzte sich in respektvollem Abstand neben seinen König.
Geduldig warteten sie, während der sanfte Wind, der nach kälteren Tagen und Regen roch, die Geräusche der plündernden Soldaten an ihr Ohr trug.
»Ein wahrlich beschaulicher Ort. Vielleicht werde ich eines Tages einen Landsitz hier errichten lassen. Direkt dort unten am Fluss, wo das Schilf fehlt. Stelle dir einen lauen Sommerabend dort vor.«
»Mein König, ich bevorzuge die kalten Winde Anbatars.«
Artharion lachte trocken. »In allen Belangen der Heimat treu. Deshalb bist du so ein guter Mann, Zorion. Aber verschließ nicht die Augen vor dem Wert des Neuen.«
Zorion gestattete sich ein Schnauben. Allerdings warf er dabei einen unsicheren Blick zu Artharion hinüber. Er hatte einen gesunden Respekt vor seinem König. Noch ein Charakterzug, den Artharion so an ihm schätzte.
»Die Sonne hier unten hat die Männer weichgekocht. Seht Euch ihre Felder an. Auf ihnen wächst Korn, das doppelt so viel Frucht trägt wie unseres. Ihre Tiere sind fetter als ihre Herren.«
»In ein paar Monden, wenn das hier vorbei ist, werden ihre Tiere unser Volk über den Winter bringen und ihr Korn Ursprung des besten Bieres sein.«
»Und Ihr werdet das Reich unserer Vorfahren regieren, wie kein Mann vor Euch.«
Artharion lächelte leise. »Das werde ich wohl.«

Blaues Nichts

Je langsamer der Zug vorankam, umso ungeduldiger wurde Nareth. Er hatte sich schon seit Sonnenaufgang verboten, sich umzusehen.
Sie hatten abermals Späher losgeschickt, die ihnen im Abstand einer halben Meile folgten, um sie zu warnen, sollten die Artharier einen Angriff wagen. Sie mussten Solim längst erreicht haben. Die Vorstellung, dass sie sich auf den Straßen seiner Heimat tummelten, schmeckte bitter.
Zusätzlich zu den Tauben hatten sie die vier schnellsten Reiter vorangeschickt, um Imerias zu warnen. Zwei weitere waren gen Bacangura geritten, um den Statthalter dort zu unterrichten, dass er die Brücken über den Agleon abreißen musste.
Nareth ging zu Fuß. Alahar hatte er wie viele andere Soldaten einer erschöpften Frau überlassen, die ein lahmes Bein hatte.
Tero schritt neben ihm. Im Sattel seines Hengstes saßen zwei Kinder.
»Ihr könnt Euch doch beherrschen?«, fragte Tero schließlich.
Nareth, der zum wiederholten Male sein Gebot, den Blick nicht zurückzurichten, gebrochen hatte, drehte den Kopf.
»Ich kann Eure Ungeduld regelrecht riechen.«
»Ich habe es unter Kontrolle«, versprach Nareth, obwohl er am liebsten das Schwert gezogen hätte, um zurück zu reiten. Es musste mehr geben, was er tun konnte. Durften sie es Artharion denn so einfach machen? Sollte er sie wirklich mit dieser Finte schon vor der ersten Schlacht geschlagen haben? Seine Armee war zwar groß und träge und hatte den Agleon zu überqueren, aber sie würden dennoch Wochen vor den Männern Zessalonns, die auf dem Weg zur Grenze waren, die Stadt erreichen.
»Was glaubt Ihr, wie sie hergekommen sind?«, fragte Nareth.
»Darüber denke ich auch schon die ganze Zeit nach«, grollte Tero. »Aber wir sollten uns dem widmen, was vor uns liegt.«
Nareth gab ein verdrießliches Geräusch von sich. »Seid Ihr auch ein Schüler Phenons gewesen?«
»Das war ich. Einer seiner Ersten. Wie hat er es so schön formuliert: Während du über Fehler nachdenkst, die du schon begangen hast, gräbt das Schicksal vor dir Löcher.«
Nareth schnaubte.
»Hat er das zu Euch auch gesagt?«, fragte Tero.
»So ähnlich, nur mit weniger Worten.«
»Und die wären?«
»Nicht denken, besser machen.«
»Scheint, als wäre er sparsamer geworden.«
Einer der Späher, der in zügigem Galopp zu ihnen aufschloss, unterbrach ihre Unterhaltung. »Wir werden verfolgt. Eine Gruppe Reiter nähert sich. Sechs Personen auf schnellen Pferden.«
»Haben sie uns schon entdeckt?«, rief Tero und warf einen besorgten Blick über die Schulter.
»Wenn sie es nicht bereits getan haben, dann tun sie es in diesem Augenblick«, sagte der Soldat.
Tero fluchte. »Wenn Artharion merkt, wie nahe wir noch sind, wird er sich die Waren, die wir noch dabeihaben, sicher nicht entgehen lassen wollen.«
Nareth fluchte ebenfalls, leiser allerdings und wesentlich wüster. »Dann wird er es eben nicht erfahren.« Er reckte den Hals, um sich Teros Pferd anzusehen. Es war größer als Alahar, ausgeruhter und schlanker gebaut.
»Ich brauche zehn Männer auf den schnellsten Pferden!«, rief er die Reihen entlang.
Dann streckte er die Hand aus. »Ihr erlaubt.«
Tero verzog missmutig das Gesicht, reichte ihm dann aber die Zügel.
Während der Hauptmann den beiden Kindern vom Rücken des Pferdes half, zog Nareth sich den Helm über und schwang sich auf den Rücken des Tieres.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sein Schwert locker in der Scheide saß, scherte er aus der Formation aus.
Gjar, der das sah, holte sich ebenfalls sein Pferd von einem älteren Mann zurück und trabte wenig später hinter ihm her.
»Aufsitzen, Männer. Uns läuft die Zeit davon.«
Außer ihm und Gjar waren alle noch dabei, ihre Pferde zwischen den Flüchtlingen zu suchen. Zu ungeduldig, um länger zu warten, gab Nareth Teros Hengst die Sporen und schoss im Galopp davon.
Er ließ den letzten Wagen hinter sich. In seinem Rücken vernahm er frustrierte Rufe, dann laute Pfiffe und Schnalzen, als sich die angeforderten zehn Männer ihm endlich anschlossen.
Nareth drehte sich nicht mehr um. Bis ihre sechs Verfolger in Sicht kamen, hielt er das Pferd zurück.
Als die Nordländer sie jedoch entdeckten und sich gegenseitig Warnungen zuriefen, ließ Nareth die Zügel schießen.
Das Pferd streckte sich unter ihm. Der Wind pfiff durch die Schlitze seines Visiers und trieb ihm Tränen in die Augen. Allerdings nicht genug, um die Männer aus dem Blick zu verlieren, die ihre Pferde wendeten und eilends die Flucht ergriffen.
»Lasst sie nicht davonkommen!«, brüllte Nareth über die Schulter und duckte sich tiefer über den Mähnenkamm.
Tatsächlich holten sie langsam auf. Allerdings viel langsamer als Nareth zu hoffen gewagt hatte.
Als sie nur noch zwei Dutzend Pferdelängen von ihren Feinden entfernt waren, wendeten fünf davon unter lauten Rufen ihre Pferde.
Nareth zog sein Schwert. Kurz bevor er auf seine Gegner traf, griff er dem Pferd in die Zügel und preschte in einer engen Schleife um die fünf herum, um den letzten Späher aufzuhalten, der ungebremst weiterritt.
Der Mantel der Gestalt flatterte hörbar im Wind, während Nareth Stück für Stück aufholte.
Er lenkte das Pferd links an dem Fuchs des Nordländers vorbei. Als er zum Schlag ausholte, fiel ihm auf, dass der Verfolgte geduckt auf dem Sattel seines Reittieres stand.
Der Reiter sprang.
Die Geschwindigkeit war es, die Nareth mit voller Wucht in den fliegenden Körper hineinkatapultierte. Eine flüchtige Umklammerung, eine einzige Berührung einer nackten Hand an seinem Hals.
Lähmender Schmerz fuhr ihm durch die Glieder. Er wurde nach hinten gerissen. Mit Schulter und Hinterkopf schlug er auf dem vorbeirasenden Boden auf. Sein rechter Stiefel jedoch hatte sich im Steigbügel verkeilt.
Teros Pferd nahm er nur noch als dunklen Schatten über sich wahr.
Ein heftiger Ruck, ein reißendes Geräusch, etwas prallte scheppernd gegen seinen Kopf, kurz Dunkelheit. Der steinige Untergrund musste ihm den Brustpanzer vom Leib gerissen haben. Er spürte Erde und Gestein, das ihm das Wams und schließlich den Rücken aufriss.
Verzweifelt versuchte er, sich aus der Falle zu befreien.
Erfolglos.
Was auch immer geschehen war, es schien jeden Befehl an seine Glieder in sich verflüchtigenden Rauch zu verwandeln.
Nur noch halb bei Bewusstsein sah er, wie der Himmel über ihm zum Halten kam. Kraftlos tastete er nach seinem Messer. Doch dann versank sein Sichtfeld in Dunkelheit.
Als es sich wieder klärte, meinte er eine verschwommene Gestalt vor sich zu sehen, die mit federnden Schritten auf ihn zukam. »Bemühe dich nicht.«
Nareth runzelte die Stirn. Die Stimme klang wie die einer Frau. Seine Angreiferin streifte Kapuze und Mantel ab. Ihr rabenschwarzes Haar hatte sie nach hinten gebunden. Strähnen hatten sich gelöst und umrahmten ihre ebenmäßigen Züge. Obwohl sie einst eine schöne Frau gewesen sein musste, schien sie auf seltsame Weise entstellt.
Nareth war zu mitgenommen, um herauszufinden, woran es lag.
Sie trug einen Kettenpanzer, dessen Gewicht sie nicht zu spüren schien. Ein breiter Ledergürtel umschlang ihre Taille und trug zwei schlanke Messer für sie. Mehr Waffen besaß sie augenscheinlich nicht. Ihre Schultern lagen unter schwarzem Leder verborgen, um ihren Hals hing ein Amulett mit einem blauen Stein. Ein Blau, das ihre Augenfarbe exakt widerspiegelte. Jedes Leben schien darin zu fehlen und für einen Moment hätte Nareth schwören können, ihr schon einmal begegnet zu sein.
Er versuchte, vor ihr zurückzuweichen, doch ihr kalter Blick nagelte ihn fest. Er spürte warmes Blut, das seine Schulterblätter hinablief, vernahm dumpfen Hufschlag.
Sie beugte sich zu ihm herab. Eine ihrer Fingerspitzen traf auf seine Stirn und stieß sanft und doch mit widerwärtiger Endgültigkeit dagegen. »Jetzt gehörst du mir, Sohn des Zorns«, zischte sie.
Eis breitete sich in seinem Inneren aus wie ein lähmendes Gift. Er rang um Atem, kämpfte gegen die Kälte und verlor.
Der Hufschlag wurde lauter. Die Schwarzhaarige entließ ihn aus ihrem Blick, dann verschwand sie aus seinem Sichtfeld. Obwohl Nareth hören konnte, dass sie davonlief, schien ihre Präsenz nicht von ihm weichen zu wollen. Selbst als die Welt in Dunkelheit versank, spürte er ihre Berührung wie eine schwärende Wunde in sich.

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