Von Dämonen und Schleifsteinen
Nachdenklich drehte Fahar den Schleifstein in seinen Händen. Die raue Oberfläche kratzte auf seiner Haut. Er warf einen Blick über die Flammen des kleinen Lagerfeuers zu dem Fremden hinüber, der in sicherer Entfernung zu den wärmenden Feuern sein Nachtlager aufgeschlagen hatte und unter einer Decke Schutz vor der heraufziehenden Kälte suchte. Der aufmerksame Blick seiner dunklen Augen, die nur spärlich vom Schein des Feuers beschienen wurden, verrieten Fahar, dass der Fremde bemerkt hatte, dass er ihn beobachtete.
»Die Götter werden Zeuge sein, ich gehe zu ihm.« Er machte Anstalten, sich von dem flachen Stein zu erheben, auf dem er gesessen hatte, doch der entschiedene Griff eines Kameraden an seinem Unterarm hielt ihn zurück. Auch die restlichen vier Männer, die mit am Feuer saßen, blickten ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
»Hat die Sonne dir das Hirn verbrannt? Halte dich von ihm fern. Die Männer sagen, er ist ein Saheran. Die Götter wollen nicht, dass du mit ihm sprichst.«
Sherkal, der ihm gegenübersaß, schnaubte. »Er ist kein Saheran! Sonst hätten die Götter ihn nicht in die Wüste geschickt. Welcher Saheran würde sich an einer Schlacht wie dieser beteiligen?«
»Ach ja? Was ist er dann?«, fragte Zuram, der noch immer Fahars Arm umklammert hielt.
»Ein Qunai wahrscheinlich. Seht ihn euch doch an«, brummte Sherkal.
Bevor Zuram antworten konnte, löste Fahar sich aus seinem Griff und steckte den Schleifstein in seine Hosentasche. »Wir werden es gleich wissen.«
»Verflucht sei dein Leichtsinn, Fahar!«, zischte Zuram.
Die dunklen Augen des Fremden folgten ihm, als er sich langsam näherte. Der tiefe Sand rieselte leise an seinen nackten Füßen vorbei, und die Kälte, die ihn bereits nach den ersten Schritten in Empfang nahm, ließ ihn frösteln.
Zwei Pferdelängen vor dem Fremden ging er in die Hocke und nickte ihm grüßend zu. »Guten Abend, Sahir. Was treibt Euch so weit von den wärmenden Flammen fort?«
»Das Licht des Feuers macht einen blind für die Dinge, die sich im Dunkeln darum herum abspielen«, antwortete der Fremde.
Seine Stimme hatte einen seltsamen Beiklang, den Fahar nicht einzuordnen vermochte. Er lächelte. »Wenn es nur die Dinge sind, die in der Dunkelheit lauern, die Ihr fürchtet, dann waren die Warnungen meiner Brüder wohl umsonst.«
Der Blick des Fremden wanderte über Fahars Kopf hinweg zum Feuer hinüber, wo die anderen verstohlene Blicke zu ihnen herüberwarfen. »Was glauben sie, was mich von den Flammen forttreibt?«
Fahar zuckte mit den Schultern. »Sie glauben, Ihr seid ein Qunai. Ein Mann, der von den Göttern verlassen wurde.«
»Aus welchem Grund glauben sie, haben die Götter mich verlassen?«
»Dafür gibt es viele Gründe. Habgier, Hochmut, Verrat. Aber meine Freunde liegen falsch.«
»Was lässt dich glauben, dass sie falsch liegen?«
Wieder lächelte Fahar. Seine Fingerspitzen zogen sanfte Linien in den Sand, während er weitersprach. »Ihr bleibt dem Tross mit Huren und Spielmännern fern, bei der Essensausgabe könntet Ihr als einer der Ersten in der Reihe stehen, wenn Ihr es darauf anlegen würdet, aber Ihr tut es nicht. Seit Wochen folgt Ihr dem Heer, obwohl Ihr nicht in diesem Land geboren wurdet. Bei jedem Angriff steht Ihr in der ersten Reihe, und doch kehrt Ihr immer und immer wieder lebend zurück. Hätten die Götter Euch verflucht, dann würden sie Euch zu sich holen und bestrafen.«
»Was also denkst du?«
»Ich denke, dass Ihr Euren Schleifstein verloren habt, Sahir.«
Als er dem Fremden den Stein reichte, lachte dieser leise. »Ihr habt eine interessante Art und Weise, jemandem seinen Besitz zurückzubringen.«
Fahar neigte geschmeichelt den Kopf. »Mein Vater pflegte zu sagen: Aus einem Dämon wird nur dann ein Mensch, wenn du mit ihm sprichst.«
Der Fremde zog eine Braue nach oben. »Dämon?«
Fahar lachte leise. »Das soll bedeuten, dass wir Menschen uns manchmal dazu verleiten lassen, vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Manchmal sind die Geister, die wir sehen, nur die Schatten guter Dinge.«
Abermals sah der Fremde ihn lange an, als er sichtlich über diese Worte nachdachte. Nach einer Weile sagte er: »Ihr nennt mich Sahir. Was bedeutet das?«
Fahar runzelte überrascht die Stirn. »Das ist nicht Euer Name?«
»Nein.«
»Dann haben die Männer ihn Euch gegeben.«
»Was bedeutet er?«
»Unsere Sprache ist nicht so eindeutig wie die allgemeine Zunge. Es gibt in jedem Landesteil unterschiedliche Dialekte. Häufig verstehen wir einander selbst nicht, weshalb jeder Mann und jede Frau Kadashars von Geburt an lernt, sowohl die Sprache seiner Heimat als auch die gemeine Zunge zu sprechen.« Als der Fremde ihn nur weiterhin neugierig musterte, seufzte Fahar. »In den meisten Landesteilen steht die Silbe ›Sa‹ für eine Segnung. Ein Priester, der heiliggesprochen wurde, darf sich Sarehim nennen. Der Wortteil ›hir‹ steht für eine Klinge.«
»Geweihte Klinge?«
»Man könnte es so übersetzen.«
»Das gefällt mir nicht.«
»Es trifft aber zu«, beharrte Fahar ernst.
»Ihr sagtet selbst, Eure Freunde glauben, ich sei von den Göttern verlassen worden. Das passt nicht zusammen.«
»Es gibt einen Grund, warum das Wort Furcht ein fester Bestandteil des Wortes Ehrfurcht ist. Der Mensch neigt dazu, sich vor Dingen zu ängstigen, die seine Vorstellungskraft übersteigen.«
»Das ist nicht mein Name!«, beharrte der Fremde eisern. Seine Züge hatten sich verhärtet, und in seinen Augen glitzerte es bedrohlich.
Fahar stützte die Ellbogen auf die Knie und legte den Kopf schief. »Wie lautet Euer Name dann?«
Für einen kurzen Moment kniff der Fremde die Augen zusammen, doch er schwieg.
Fahar erhob sich und klopfte sich den Sand von den Händen. Bevor er sich zum Gehen wandte, sagte er: »Ich wünsche Euch noch eine friedliche Nacht, Sahir.«