Fehlende Tugenden
Aus sicherer Entfernung beobachtete Nareth die vier Wachen vor dem Durchgang zum Stadtkern. Ihre Mienen ließen keinen Zweifel daran, dass sie ihre Aufgabe ernst nahmen. Hin und wieder passierten gut gekleidete Menschen das geöffnete Eisentor, aber alle wurden von den Wachen angehalten und erst nach gründlicher Befragung weitergelassen. Hinter der Mauer und dem bewachten Tor lagen die sechs Türme, großzügig auf dem weitläufigen Gelände verteilt. Dazwischen konnte Nareth mehrere Militärgebäude, ein vermeintliches Kloster und eine Universität ausmachen. Zwischen all dem thronte die Burg Anbatars.
Die Ausmaße des artharischen Herrschaftssitzes ließen Zessalonns Burg wie eine Hundehütte wirken. Das massive Gebäude aus Stein ließ sich keiner geometrischen Form zuordnen und war dennoch von einer stillen Erhabenheit die Nareth beeindruckte. Er kniff die Augen zusammen. Das riesige Kuppeldach in der Mitte der Festung schien tatsächlich aus Glas gefertigt zu sein. Dieses Kunstwerk musste er sich unbedingt näher ansehen. Er stieß sich von der Wand des Gebäudes ab, an das gelehnt er gewartet hatte, und überquerte die Straße. Wie angenommen, wurde er, kurz bevor er das Tor erreichte, aufgehalten.
»Habt Ihr einen Passierschein, Herr?« Die Stimme der Stadtwache klang überraschend freundlich.
»Nein. Wo kann ich einen bekommen?«
Die Wache musterte ihn von oben bis unten. »Hier bei mir, wenn Euer Anlass mir wichtig genug erscheint.«
Verdammt. Darauf war Nareth nicht vorbereitet. Sein Bauchgefühl rettete ihn. »Ich möchte Medizin kaufen. Meine Frau ist krank, man sagte mir, es gäbe keine besseren Heilkräuter, als die aus den Klostergärten Anbatars.«
»Nur wenige können sich diese Art von Arznei leisten.«
»Sehe ich aus, als könnte ich das nicht?«
Wieder ein prüfender Blick der Wache. Zum Glück trug Nareth nicht seine Reisekleidung und so ließ sich der Mann von seinem fein gestickten schwarzen Wams, den Wildlederstiefeln und dem teuren Mantel überzeugen.
Er zog eine kleine Papierrolle aus seinem Gürtel hervor und schrieb mit einem Kreidestift etwas darauf. »Ihr habt eine Stunde, um mir das Dokument zurückzubringen. Wenn wir Euch danach auf dem Gelände erwischen, werdet Ihr festgenommen.«
Nareth nickte ernst. Der Tonfall seines Gegenübers ließ keinen Zweifel daran, dass eine Verhaftung nicht in seinem Interesse lag.
»Und noch etwas: Keine Waffen.«
Nareth, der schon losgelaufen war, hielt inne. Er konnte auf Anhieb sieben Dinge nennen, die er lieber tat, als einem Fremden seine Waffen auszuhändigen, wenn er kurz davorstand, das Herz Anbatars zu betreten. Dennoch schob er seinen Mantel zurück und zog seine Messer. Nachdem er, außer seinen bloßen Händen, alles an Waffen abgelegt hatte, trat er unter dem Torbogen hindurch. Um die Wache nicht herauszufordern, folgte er einem Wegweiser in Richtung Kloster. Im Vergleich zur restlichen Stadt standen die Gebäude hier weit auseinander und waren in tadellosem Zustand. Trotz der kälter werdenden Nächte blühten hier und da Blumen in sorgsam angelegten Beeten. Je weiter er sich dem Kloster näherte, desto größer wurden die bepflanzten Flächen. Der Klostergarten selbst wurde von einer hüfthohen Buchshecke gesäumt. Dahinter erstreckte sich ein wunderschöner Park, aus weitläufigen Kräuterbeeten, Brunnen und kleinen nischenartig angelegten Rückzugsorten. An einigen Stellen knieten Frauen, in braunes und beigefarbenes Leinen gekleidet, zwischen den Kräutern. Zu Nareths Überraschung trugen sie ausnahmslos Hosen.
Er folgte einem breiten Kiesweg, der auf ein einfaches Steingebäude zuführte. Davor waren mehrere Stände aufgebaut, auf denen Kräuter, Salben, Tees und Gerätschaften zu finden waren, die Nareth nicht zuordnen konnte. Er kaufte eine Phiole teures Kräuterkonzentrat, falls die Wache am Tor ihn erneut überprüfen würde.
Seine verbleibende Zeit nutzte er, um sich in der Nähe der Burg umzusehen. Zu seinem Verdruss erreichte er rein gar nichts. Er fand weder einen Seiteneingang, über den er an einem anderen Tag hätte einsteigen können, noch eine Person, mit der er Kontakte knüpfen könnte. Außer den Priesterinnen, ein paar Burschen, die im Klostergarten aushalfen und der Palastwache, war niemand zu sehen. Kein einflussreicher Kaufmann, der die Burg betrat, keine Bediensteten, kein Politiker und kein Gelehrter. Nicht einmal ein hochrangiger Offizier war in der Umgebung des eingezäunten Militärgeländes zu finden. Alles, was er feststellen konnte, war, dass der Haupteingang zur Burg unpassierbar war. Sechzehn bis an die Zähne bewaffnete Gardisten waren davor postiert und das eiserne Flügeltor fest verschlossen.
Während der Stunde, die Nareth im Inneren der Stadt verbrachte, versuchte keine Menschenseele das Haupttor zu passieren. Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als nach Ablauf der Zeit seine Waffen abzuholen und das Gelände zu verlassen. Frustriert machte er sich auf den Rückweg.
Berland hatte recht behalten: Ohne Verbindungen war es ihm nicht möglich, etwas auszurichten. Aber so einfach gab er nicht auf. Es musste einen Weg geben, mit jemandem zu sprechen, der Zugang zur Burg hatte und ihm sagen konnte, was im Rat vor sich ging!
***
Mit jedem weiteren Tag, der verstrich, schwand seine Zuversicht. Egal, was er versuchte, er fand keinen Zugang zu den Vorgängen im Rat. Selbst als er in seiner Verzweiflung nachts über die Mauer stieg, war dort außer den Gardisten niemand zu sehen. Es schien, als wäre die Burg unbewohnt. Eine Tatsache, die ihn mehr und mehr beunruhigte, wusste er doch, dass ein blutsverwandter Artharions im Inneren der Burg darauf wartete, den Thron zu besteigen. Die Gerüchte, die man sich abends in den Tavernen über den jungen Artharier erzählte, trugen nicht dazu bei, Nareth zu besänftigen. Rashan habe die Beharrlichkeit und Ungeduld Artharions geerbt und sei fest entschlossen, dem Nordreich zu neuer Größe zu verhelfen.
So saß er zehn Tage später mürrisch beim Abendessen, als sich jemand schwankend seinem Tisch näherte.
»Du bist ja immer noch da«, begrüßte Berland ihn.
»Und du immer noch betrunken«, stellte Nareth nüchtern fest.
Berland gluckste, was in einem Schluckauf unterging. Dann zog er ungefragt einen Stuhl zu Nareths Tisch heran und setzte sich. »Schlechte Laune?«
»Ergebnislose Suche.«
»Wonach?«
Da der Gastraum fast leer war und er ohnehin keinen Erfolg hatte, sah Nareth keinen Grund ihn anzulügen. »Nach einer Möglichkeit Kontakt zum Rat aufzunehmen.«
Berland lachte. »Hab ich dir doch gesagt, Junge. Das war schon immer so. Solange kein neuer König auf dem Thron sitzt, ist das Regierungsgebäude verschlossen, wie eine beleidigte Auster. Die da oben wollen nicht, dass sich jemand von außen einmischt. Die fechten ihren Kampf um den Thron lieber allein aus. Solange das nicht vorbei ist, brauchst du dir keine Hoffnung machen.«
Nareth brummte etwas Unverständliches und wandte sich wieder seinem Essen zu. Er war kurz davor, vors Burgtor zu marschieren und als südländischer Botschafter um Einlass zu bitten. Allerdings hatte er Imerias versprochen, sich bedeckt zu halten, solange keine Verstärkung eingetroffen war. Zudem war es zu riskant. Wenn Rashan die Wachen im Griff hatte, würde seine Anfrage den Rat und vor allem Mesedo nie erreichen. Also blieb er sitzen und grübelte weiter vor sich hin.
»Ihr kennt nicht zufällig einen Vertreter der Kaufmannsgilde?«, fragte er irgendwann.
»Nein. Und selbst wenn ich das täte, würde dir das nichts nutzen.«
»Warum nicht? Die Kaufleute müssen Abgaben zahlen, oder nicht? Irgendwer muss ihre Streitigkeiten schlichten! Das ist Aufgabe des Rates!«
»Nicht im Moment.« Berland seufzte. »Ich weiß ja nicht, was dich umtreibt, aber du wirst warten müssen, bis ein neuer König auf dem Thron sitzt. Hier steht bis dahin alles still. Die Tore werden geöffnet, wenn Anbatar einen Herrscher hat. Vorher nicht. Es ist gewollt, dass niemand Kontakt aufnimmt, solange Anbatars Thron unbesetzt ist. Finde dich damit ab.«
»Beunruhigt es dich gar nicht, dass erneut ein artharischer Spross versucht, die Herrschaft an sich zu reißen?«, fragte Nareth.
Ein gleichgültiger Zug legte sich über Berlands Gesicht. »Was ändert es, wenn ich mich fürchte? Ich habe keine Söhne mehr, die ich geben kann.«
Nareths Wut legte sich bei seinem leblosen Tonfall. Es tat ihm leid, wie machtlos der alte Mann, und viele seiner Mitbürger zusehen mussten, wie andere über seine Zukunft entschieden.
Eine Weile saßen sie schweigend da, dann ergriff Berland erneut das Wort. »Mögen die Sterne uns beistehen, wenn der artharische Bengel König wird. Noch einen Winter, wie den letzten, verkraften wir nicht.« Er setzte den Krug an und leerte ihn in einem Zug. Seufzend sank er auf seinem Stuhl zurück.
Nareth musterte ihn nachdenklich. Kein Wunder, dass der Mann trank. Und dabei war er nur einer von vielen, die Nareth in den letzten Tagen getroffen hatte. Die Straßen waren voll von Waisen wie Keni, die versuchten, sich ihr täglich Brot zu erstehlen, die Tavernen voller Säufer – wie Berland – und die Plätze voll bettelnder Witwen. Wenn der Rat nicht bald eine Entscheidung traf, würde der Winter die Hälfte der Bevölkerung dahinraffen. Nareth musste die Kälte im Nordreich nicht kennen, um zu wissen, dass die Ärmsten sie nicht überstehen würden.
»Wie lange wird es dauern?«, fragte er Berland.
Der blinzelte gedankenverloren, dann richtete er sich ein wenig auf. »Bis ein neuer König gekrönt wird?«
Nareth nickte.
»Zuletzt hat es nur eine Woche gedauert. Aber dieses Mal ist es anders. Irgendwas geht da vor sich. Soweit ich weiß, hat es in den letzten Jahrzehnten nie länger als zwanzig Tage gedauert. Die Sterne mögen wissen, was diesmal los ist. Ich glaube, der Rat wehrt sich gegen Rashan. Aber was weiß ich schon.«
Ungeduldig schloss Nareth eine Hand zur Faust. Er war nicht dafür geschaffen, tatenlos herumzusitzen, während sich ein tyrannischer Balg ein ganzes Land unter den Nagel riss. Wenn er sich diese frustrierenden Nachrichten länger anhören musste, würde er anfangen Feuer zu spucken. Rastlos trommelten seine Fingerkuppen auf dem hölzernen Tisch herum, während er über eine Lösung dieses Dilemmas nachdachte.
Erst die grollende Stimme des Wirtes riss ihn aus seinen Überlegungen. »Streuner haben hier drin nichts verloren! Raus mit dir!«
Nareth erwartete schon, dass Revo sich ins Gasthaus geschlichen hatte, doch der Hund war nirgends zu sehen.
Stattdessen war es Keni, der vor dem grimmigen Wirt stand. »Bitte Herr! Es ist wichtig. Ich muss mit Eurem Gast sprechen!«
Der Wirt verzog wütend die Stirn. »Ihr diebischen Halunken werdet immer dreister. Du hast Glück, dass ich kein Unmensch bin, sonst würde ich …«
Er verstummte, als Nareth sich den beiden näherte. »Schon gut. Der Junge gehört zu mir.«
Überrascht wandte der Wirt sich um. »Glück gehabt, Bürschchen«, brummte er in Kenis Richtung und verschwand hinter dem Tresen.
»Was ist los?«, fragte Nareth.
Keni sah aus, als wäre er den ganzen Weg vom Stall bis hierher gerannt. »Jemand hat dein Pferd geklaut!«
»Was?!«
»Dein Pferd! Alahar, du erinnerst dich?«
»Ich habe dich schon verstanden, Keni! Erzähl mir, was passiert ist!«
»Vor drei Tagen ist ein Mann in den Stall gekommen und hat nach dir gefragt. Ich hab gesagt, ich weiß nicht, wo du bist, aber du würdest hin und wieder kommen und nach Alahar sehen. Er ist gegangen, aber ich hab ihn in den nächsten Tagen immer wieder in der Nähe gesehen. Ich glaube, er hat auf dich gewartet und wollte dich warnen, aber Grimbor hat gesagt, ich müsse bei den Pferden bleiben.«
»Der Stallbesitzer?«, fragte Nareth sicherheitshalber.
Keni nickte eifrig. »Ja. Also hab ich nichts gemacht und heute Morgen war dein Pferd weg. Dafür lag das in der Box. Grimbor meinte, ich soll dir Bescheid sagen.«
Verwirrt musterte Nareth die kleine Rolle Papier in Kenis Händen. »Was ist das?«
»Weiß ich nicht. Ich kann nicht lesen«, meinte Keni schulterzuckend.
Nareth nahm ihm die Rolle aus der Hand und las.
»Du solltest öfter nach deinem Pferd sehen, sonst kommt noch jemand auf den Gedanken, es sei herrenlos! Wenn du es noch brauchst, komm und hol es dir heute Nachmittag ab. Seilerstraße, Gasthof Zum Bullen, Hinterhof!«
Nareth sah von dem Schriftstück auf. »Ist das ein Scherz?«
Erschrocken sah Keni ihn an. »Was? Nein! Es war wirklich so! Der Mann muss ihn einfach mitgenommen haben!«
Nareth zerknüllte wütend das Papier in der Hand. »Was wollte der Kerl von mir?«
»Hat er nicht gesagt.«
Da passte man einmal nicht persönlich auf sein Hab und Gut auf! »Wie sah er aus?«
Das schlechte Gewissen stand Keni ins Gesicht geschrieben, als er zu ihm aufsah. »Weiß ich auch nicht, er hatte eine Kapuze auf.«
Nareth fluchte. »Danke Keni. Geh zurück. Ich kümmere mich darum.«
***
Nachdem Nareth sein Schwert aus dem Zimmer geholt hatte, machte er sich auf den Weg. Wer auch immer ihn in eine Falle locken wollte, er würde nicht unvorbereitet hineintappen! Beunruhigend genug, dass ihn jemand anhand seines Pferdes ausmachen konnte. Derjenige musste ihn gut kennen, oder ihm über längere Zeit hinweg gefolgt sein. Egal was, Nareth hatte vor, sich eindringlich mit ihm zu unterhalten.
Die Seilerstraße kannte er mittlerweile. Eine belebte Kaufmannstraße, in der sich, neben den zahlreichen Läden, eine Taverne an die nächste reihte.
Den Bullen fand er ohne Probleme. Der Name war in goldfarbenen Lettern über den Eingang gepinselt. Das Gebäude war gut in Schuss und schien zu den exklusiveren Gasthäusern der Stadt zu zählen.
Nareth vergewisserte sich, dass seine Klinge locker in der Scheide saß, und betrat vorsichtig die Gasse, die an dem Gebäude vorbei und – wie er vermutete – in den Hinterhof führte. Mit einem sichernden Blick nach oben vergewisserte er sich, dass ihm von dort keine Gefahr drohte. Weder das Gebäude zu seiner Linken, noch das des Bullen, hatten Fenster zu der Gasse hinaus. Wenn ihn jemand von oben überraschen wollte, müsste er sich auf dem Dach verbergen. Er blieb stehen und lauschte, um ganz sicher zu sein. Kein leises Scharren, kein krampfhaft angehaltener Atem. Obwohl alle seine Sinne aufs Äußerste gereizt waren, nahm er nichts wahr, außer den leisen Geräuschen, die durch die Wände des Gasthauses drangen.
Schritt für Schritt schlich er, an der Wand entlang, auf den Innenhof zu. Als er sich der Hausecke näherte, spähte er erst nach rechts. Dort stand nur eine Kutsche mit gebrochener Deichsel. Ein Blick nach links um die Ecke bestätigte ihm, dass auch von dort keine Gefahr drohte. Direkt vor ihm allerdings, in der Mitte des Hofes stand ein Mann in einem schlichten Mantel. Er hatte ihm den Rücken zugekehrt und vergewisserte sich gerade, dass Alahar, der vor ihm an einem Karren stand, gut festgebunden war. Der Fremde war nur wenige Handbreit kleiner als Nareth und ohne Zweifel ein erprobter Kämpfer. Seine kurz rasierten Haare, seine Statur, die Art und Weise wie er sich bewegte, all das erinnerte Nareth an das Gebaren eines Soldaten. Er zog sein Messer. Vorsichtig schlich er aus seiner Deckung auf die Gestalt zu. Er kam nicht weit. Eine Brise des Herbstwindes, der schon seit Tagen durch die Straßen zog, wehte die Gasse herauf. Alahar hob witternd den Kopf und wieherte dann grüßend.
Nareth fluchte innerlich. Verdammtes Pferd!
Der Fremde drehte sich um, ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen.
»Ilion?!« Verdutzt hielt Nareth inne.
Sein Waffenbruder lachte. »Wen hast du erwartet?«
Nareth starrte ihn fassungslos an. »Wen ich erwartet habe?« Eine kurze Pause entstand, als er versuchte festzustellen, ob er träumte. »Jeden außer dir!«, fügte er dann hinzu. »Wie bist du hergekommen?«
»Tust du mir einen Gefallen und steckst das Messer weg, bevor du mir um den Hals fällst?« Ilion warf einen vielsagenden Blick auf die Klinge, die Nareth noch immer fest umklammert hielt.
Nareth steckte sie weg, kam die restlichen vier Schritte auf Ilion zu und grüßte ihn mit einem herzlichen Händedruck. Als er sich von seinem Freund löste, warf er ihm einen grimmigen Blick zu. »Was fällt dir ein, dich an meinem Pferd zu vergreifen!«
Ilion grinste ungerührt. »Ich habe fünf Tage gebraucht, um ihn zu finden! Dich aufzuspüren war ein Ding der Unmöglichkeit. Also habe ich dich herbestellt. Ich fand die Idee hervorragend!«
»Warum hast du nicht im Stall gewartet?«
»Habe ich. Zwei Tage lang. Aber auch meine Geduld hat Grenzen.«
»Was tust du hier?«
»Dir den Rücken freihalten. Was sonst?«
Nareth holte tief Luft. Abgesehen von einem unentschlossenen artharischen Rat gab es nur einen Menschen, der ihn so auf die Folter spannen konnte und der war Ilion. »Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, verdammt!«
»Der König schickt mich.«
»Der König?«
Ilion verdrehte die Augen. »Imerias. Dein Halbbruder? Der hochgewachsene dunkelhaarige Mann auf dem zessalonnischen Thron?«
Nareth schüttelte den Kopf. »Deine dumme Klappe hat mir gefehlt.«
Ilion grinste breit. »Ich weiß.« Er wurde ernst. »Imerias ist der Meinung, dass du nicht alleine hier sein solltest. Er hat dir einen Diplomaten mitgeschickt und zwölf Soldaten, einschließlich mir.« Er breitete die Arme aus, als hätte er Nareth offenbart, der Retter der Welt zu sein.
Nareth überging die Geste. »Wie seid ihr unerkannt bis hierhergekommen?«, fragte er besorgt.
»In kleinen Gruppen, als Händler getarnt. Aber wie wäre es, wenn wir das bei einem Bier klären! Du schuldest mir eine Runde!«
»Tue ich das?«
Ilion antwortete nicht, sondern band Alahar los und verließ mit ihm den Hinterhof.
»Mit wem bist du hier?«, fragte Nareth, während er zu Ilion aufschloss.
»Mit Yaron.«
Nareth wäre fast stehen geblieben. »Mit Yaron?«
Ilion nickte beiläufig.
Ein wenig zu beiläufig für Nareths Geschmack. »Von all seinen Beratern hetzt er mir ausgerechnet Yaron auf den Hals?«
Seit Nareth den blonden Berater kennengelernt hatte, waren sie einander auf die Nerven gefallen und Yaron hatte sich keine Mühe gegeben, seine Verachtung für Nareth zu verbergen. Nareth schoss jedes Mal ein Schwall Wut aus dem Magen empor, wenn er das aalglatte Gerede des Mannes hören musste.
»Es war nicht meine Idee.«
»Das ist mir klar, aber warum der Kerl?«
»Beklage dich nicht, ich musste drei Wochen mit ihm, als Händler verkleidet, auf einem Karren sitzen.«
»Und ihr seid beide unverletzt angekommen?«
Ilion zuckte mit den Schultern. »Man gewöhnt sich an ihn.«
»Tut man das? Ich versuche sein aufgeplustertes Gerede seit Monaten zu ertragen und schaffe es nicht.«
Ilion runzelte die Stirn. »Das kann ja interessant werden mit euch beiden.«
Eine Weile schwiegen sie, während sie die Straße in Richtung Mietstall hinabgingen. Die Sonne war hinter den Häusern im Westen verschwunden und die Kälte des nahenden Winters kroch aus den Schatten hervor.
Ilion zog sich seinen Umhang enger um die Schultern. »Hättest du deinen glorreichen Plan nicht im Sommer durchführen können?«
»Wenn es so weitergeht, steht im Sommer das nächste Heer vor Zessalonn.«
Für diese Aussage fing er sich einen bösen Seitenblick von seinem Kameraden ein. »Siehst du, dein Humor ist auch schon eingefroren. Ich sag’s dir, der Winter hier ist nichts für uns Sü …«
»Würdest du vielleicht die Klappe halten!«, zischte Nareth und sah sich erschrocken um. »Bei den Sternen, willst du uns umbringen?«
Ilion warf ebenfalls einen besorgten Blick die Straße hinunter. »Hoppla. An diese Geheimnistuerei muss ich mich noch gewöhnen.«
»Gewöhn dich schneller daran, sonst stehen wir am Pranger, bevor du blinzeln kannst.«
Ilion sagte nichts mehr. Aber immer wieder spürte Nareth seinen abschätzenden Blick auf sich ruhen.
»Was ist?«, fragte er irgendwann gereizt.
»Ich versuche rauszufinden, was mit dir los ist«, sagte Ilion.
»Nichts ist mit mir los!«
»Doch, du bist wütend.«
Nareth biss die Zähne zusammen. Ihm war gar nicht aufgefallen, wie recht Ilion damit hatte. Er war nicht nur ungeduldig, er war zornig. Die Hilflosigkeit machte ihn reizbarer als erwartet. Er würde in Zukunft besser aufpassen müssen. Wenn er in dieser Stimmung war, verlor er zu schnell die Kontrolle. In einer Stadt voller Menschen, die ihn als ihren Feind ansehen würden, wollte er das nicht riskieren. Da Ilion nichts mehr sagte, setzten sie ihren Weg schweigend fort.
Erst als sie Alahar zurückgebracht hatten, ergriff Nareth erneut das Wort. »Also, wo habt ihr euch eingemietet?«
»Im Bullen«
»Na schön, dann lass uns zurückgehen. Ich nehme an, Yaron will alles genaustens besprechen?«
Ilion grinste. »Er ist Diplomat. Die besprechen immer alles.«
»Großartig.«
Ilion lachte und ging beschwingt voran. Nareth folgte ihm, wenig begeistert. Als sie das Gasthaus betraten, war seine Laune keinen Deut besser geworden. Schweigsam folgte er Ilion, der zielstrebig eine Treppe am hinteren Ende des Gastraums ansteuerte, die in den ersten Stock führte. Dort zierte ein sauberer Teppich den Dielenboden und an den Wänden erhellten Kerzen in Glaslampen den Korridor. Der Bullen war um einiges nobler als das Wirtshaus, in dem Nareth nächtigte. Vor der Tür, auf der in silbernen Lettern die Nummer zwölf geschrieben stand, hielt Ilion an, klopfte und trat dann ein. Links an der Wand stand ein Bett, rechts ein grob gezimmerter Tisch und ein Stuhl. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes war ein großes Fenster in die Wand eingelassen, das den Raum mit den hell gestrichenen Wänden ausreichend beleuchtete.
Auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch saß Yaron und schrieb sorgfältig auf ein Stück Pergament. Er wandte sich nicht um, als Ilion und Nareth hereinkamen. Nareth stellte sich mit verschränkten Armen neben die Tür und wartete stoisch auf eine Regung des Diplomaten.
»Wie ich sehe, hast du ihn gefunden«, meinte Yaron.
Der Blick des hochgewachsenen, blonden Mannes streifte Ilion und richtete sich dann kühl auf Nareth. Obwohl Yaron mit seinen siebenunddreißig Sommern relativ jung für seinen Berufsstand war, schien er Nareth jedes Jahr, das er ihm voraus war, spüren lassen zu wollen.
»Nareth.« Sein Tonfall hatte die Wärme eines Steins.
Nareth klang auch nicht erfreuter. »Yaron.«
Mehrere Herzschläge lang sahen sie sich taxierend an.
Yaron brach als Erster das Schweigen. »Ich brauche einen Bericht, über alles, was bisher passiert ist und was du erreichen konntest.«
Ich hab dich auch vermisst Arschloch, fluchte Nareth in sich hinein. »Alles, was passiert ist?«, fragte er.
»Nur das Wichtigste.«
»Ich habe mich nur umgehört. Es gibt sechs Räte. Einer davon ist Artharions Neffe. Die Bevölkerung hofft allerdings auf Mesedo. Muss ein vernünftiger Mann sein. Mehr konnte ich nicht herausfinden. Ich habe versucht, mit jemandem zu sprechen, der mehr weiß, aber die Regierung hat sich hinter den Burgmauern verschanzt, wie ein Infanterist hinter seinem Schild!«
»Es gibt immer eine Möglichkeit, mit jemandem aus Regierungskreisen zu sprechen«, erwiderte Yaron in seinem üblichen ruhigen Tonfall, der Nareth die Galle hochtrieb.
»Ich versuche es seit drei Wochen und habe rein gar nichts erreicht! Die Adligen sind zu gut geschützt. Nicht einmal die Kaufmannsgilde hat Zugang zur Burg. Ich habe mit einem Einheimischen gesprochen, er meinte, der Rat schotte sich so lange von allem ab, bis ein neuer König gekrönt sei.«
Yaron drehte nachdenklich den Goldring an seinem Finger.
»So lange können wir nicht warten«, brummte der Diplomat.
»Was Ihr nicht sagt«, erwiderte Nareth gereizt.
»Hast du es über einen Bediensteten versucht? Diener hören mehr, als man meinen sollte.«
Nareth begann, unruhig auf und abzugehen. »Yaron, ich habe alles versucht. Das Burgtor bleibt rund um die Uhr verschlossen. Keine Menschenseele hat es passiert, seit ich hier bin! Ich habe es bei den Soldaten versucht. Aber es sind kaum welche hier. Die Reste des Hauptheeres sind noch nicht zurückgekehrt. Und die wenigen Offiziere, die ich ausfindig machen konnte, haben weder Zutritt, noch Kontakt zum Inneren der Burg!«
»Nun, wenn es keinen anderen Weg gibt, werden wir als Botschafter um Audienz bitten.«
»Nein.«
Yaron zog eine Braue hoch. »Nein?«
Auch Ilion schien verwirrt. »Warum nicht? Als Abgesandte des Südreiches müssen sie uns anhören!«
Entschieden schüttelte Nareth den Kopf. »Solange wir nicht wissen, ob man uns empfangen wird, ist das zu riskant.«
»Das können wir aber nur in Erfahrung bringen, wenn wir fragen«, lenkte Ilion ein.
»Wen denn? Wir wissen doch gar nicht, was da drinnen vorgeht! Wenn Rashan die Wachen geschmiert hat, werden Mesedo und die anderen Ratsmitglieder nie erfahren, dass wir hier waren. Oder er wird unsere Anwesenheit so zu seinen Gunsten verdrehen, dass sie sofort die Stadtwache losschicken, um uns auszuschalten.«
Ilion nickte, während Yaron schweigend weiter an seinem Ring herumspielte.
Es schien ihm zu missfallen, dass Nareth recht hatte. »Schön, also was schlägst du vor?«
Nareth nahm seine Wanderung wieder auf. »Ich weiß es nicht«, gestand er widerwillig.
Als wäre ihm das längst klar gewesen, nickte Yaron. »Gut. Du hast zwei Tage, einen Weg zu finden. Danach werde ich einen der Männer ans Tor schicken und als südländischer Botschafter um Einlass bitten.«
Nareth begann zu lachen. »Ihr gebt mir zwei Tage?«, fragte er angriffslustig. »Soweit ich mich erinnern kann, war es meine Idee herzukommen!«
»Und es waren die Befehle deines Bruders, die mich veranlassten, dir nachzureisen und die Friedensgespräche in Gang zu bringen«, gab Yaron zurück.
Nareth machte einen Schritt auf ihn zu. »Dann verhaltet Euch auch so, als ob es Euch ernst damit wäre!«
»Zweifelst du an meinen Motiven? Du bist nicht der Einzige, der sich Frieden wünscht.«
»Dann erdreistet Euch nicht, mir solche Befehle zu erteilen!«
Yaron erhob sich. »Imerias hat mir das Kommando übertragen, wenn es um diplomatische Fragen geht, er vertraut meinem Urteil! Das bedeutet, du wirst meinen Befehlen Folge leisten, ob sie dir gefallen oder nicht.«
Nareth konnte es nicht fassen. Er und Yaron hatten sich nie leiden können, aber in Gegenwart des Königs hatten sich ihre Uneinigkeiten in Grenzen gehalten. Dass der Gelehrte sich so erdreistete, jetzt wo Imerias nicht in der Nähe war, brachte Nareth an seine Grenzen. Er trat einen weiteren Schritt auf den Diplomaten zu. Dann zwang er sich, stehen zu bleiben. Er spürte deutlich, dass es unangenehm werden könnte, wenn er sich jetzt nicht zusammenriss. In Gedanken zählte er bis zehn, bis sein dumpfer Herzschlag, der ihm in den Ohren dröhnte, ruhiger wurde.
»Imerias mag Euch das Kommando übertragen haben, aber ich werde nicht zögern zu handeln, wenn ich der Meinung bin, damit einen Krieg verhindern zu können. Also überlegt Euch Eure Befehle gut.«
Yaron musterte ihn herablassend. »Zwei Tage«, proklamierte er.
Nareth schnaubte. »Wir werden sehen.«