Die Schmerzensschreie von Menschen, die lebendig verbrannten, begleiteten Festus auf seinem Weg durch den Wald, doch er kümmerte sich nicht darum. Mit jedem Schritt, den er sich entfernte, wurden die Schreie leiser. Er hörte das Knacken von Ästen, die unter seinen Stiefeln zerbrachen und das Rascheln des Laubes.
»Boris, wo bist du?«, rief er, doch niemand antwortete.
Nach einiger Zeit erreichte er die Leiche eines Mannes mit dickem Bauch, verdrehten Gliedern und entstelltem Gesicht. In der Wade des linken Beins steckte ein abgebrochener Pfeil. Die Kleidung des Toten und das Laub um ihn herum waren blutgetränkt.
»Verdammte Scheiße, du solltest ihn am Leben lassen, Boris«, fluchte er, während er die Überreste betrachtete.
Festus kniete sich hin, um sie zu untersuchen, und stellte fest, dass die Erde unter ihm nicht feucht war, sondern matschig. Er nahm eine Handvoll Waldboden und zerrieb ihn zwischen den Fingern, die sich rot färbten.
Was ist hier passiert? Weder aus den Wunden im Gesicht des Erschlagenen, noch aus dessen Wade konnte Blut in dieser Menge geflossen sein.
Festus wandte sich von der Leiche ab und ließ den Blick schweifen. Er konnte weder Boris noch Kain entdecken.
»Verflucht, wo steckt ihr?«, flüsterte er. »Boris! Kain!«
Ungehört verhallten seine Rufe in der Nacht. Während er sich erhob, schlossen sich seine Finger fester um den Griff seiner Waffe. Ohne die Umgebung aus den Augen zu verlieren, setze er die Suche fort und entdeckte die Spuren zweier Stiefelpaare, die sich in unterschiedlichen Richtungen von der Leiche entfernten.
Er entschied sich für die Fährte, die ihn, von einer Blutspur begleitet, in den Sumpf führte, der Totenhall von Sargwald trennte. Als sie sich am Ufer verlief, sprang er in den Pfuhl und watete durch das Wasser. Dabei hielt er immer wieder Ausschau. Wer so viel Blut verloren hatte, müsste längst tot an der Wasseroberfläche treiben. Doch der einzige Fremdkörper, der sich durch den Sumpf bewegte, war er selbst.
»Boris!«, rief Festus noch einmal. »Kain!«
Er blieb stehen, hielt den Atem an, schloss die Augen und lauschte. Abgesehen vom Quaken der Frösche und dem Zirpen der Grillen hörte er nichts.
»Boris, bei allen Höllen dieser Welt, antworte endlich!«

Bis zum Tagesanbruch streifte Festus durch den Sumpf und suchte nach den beiden Todeswächtern. Von Durst und Erschöpfung übermannt trat er schließlich den Rückzug an. Um das Verlangen, das in ihm brannte, zu stillen, leckte er das getrocknete Blut von der Klinge seiner Axt. Es war ein Tropfen auf dem heißen Stein, doch es würde ihn auf den Beinen halten, bis er sein Ziel erreichte.
Das Herrenhaus hatte sich in ein Steingerippe verwandelt, dem der Duft von verbranntem Fleisch entströmte. Das Dach war eingebrochen, stellenweise loderte noch immer das Feuer. Festus rümpfte die Nase, als er den Gestank von Verwesung vernahm. Hinter den Ruinen des Hauses entdeckte er einen von Fliegenschwärmen bevölkerten Berg aus Leichen.
»Das müssen die abgeschlachteten Todeswächter sein, von denen … Kain erzählt hat«, hörte er Conor sagen.
Festus sah an dem Leichenhaufen vorbei und erblickte den Vampir mit dem Aussehen eines Halbwüchsigen, der auf dem gemauerten Rand eines Brunnens hockte. Blut, das im Tageslicht glänzte, befleckte Gesicht und Rüstung.
Sichtlich gelangweilt ließ Conor Steine in die Tiefe des Schachtes fallen und lauschte dem Plätschern. Mit den blutroten Spinnenbeinen, die seinem Rücken entwuchsen, stützte er sich gleichermaßen an den Balken des Brunnenhäuschens und am Boden ab.
»Hast du Boris und Kain gefunden?«, fragte er, in einem Tonfall, der Festus aufhorchen ließ. »Nein«, antwortete er. »Nichts außer einer weiteren Leiche und einer Unmenge Blut.« »Glaubst du, die beiden sind geflohen?«
Festus schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?« Conor legte den Kopf schief. »Der Mann, der Kain gefoltert hat, ist tot. Aus welchen Gründen sollte Boris jetzt noch bei dir bleiben? Nur weil er so aussieht wie dein verstorbener Bruder, ist er dennoch nicht Colin. Er hat eigene Wünsche und Träume.«
»Ich bin mit Boris und Wolf auf der Suche nach dem Spinnenkönig quer durch die Baronien gereist«, antwortete Festus. »Im Auftrag der Todeswache haben wir nach dir gesucht, Conor. Die Wahrscheinlichkeit, dass du der Mörder bist, war hoch, doch du hast mich vom Gegenteil überzeugt und auf die Fährte des wahren Feindes geführt. Boris hätte nicht die ganze Mühe auf sich genommen, nur um jetzt den Dienst zu quittieren und sich abzuwenden. Der Spinnenkönig lebt noch.«
Conor lachte. »Wahrscheinlich lebt er noch, da stimme ich dir zu.« Er drehte sich zu dem Leichenberg herum. »Bei irgendeinem dieser stinkenden Mistkerle müsste es sich um Boris’ Hauptmann gehandelt haben. Wenn ich der Junge wäre, hätte ich die Möglichkeit genutzt und die Flucht ergriffen.«
»Wenn das Blut am Fundort von Vessels Leiche nicht gewesen wäre, würde ich dir zustimmen«, antwortete Festus und hustete.
Seine Stimme klang kratzig, der Hals schmerzte.
Conor zog eine Augenbraue in die Höhe. »Was meinst du damit?«, fragte er und förderte, bevor Festus antworten konnte, mit einem seiner Spinnenbeine einen Trinkschlauch zutage, den er offenbar hinter dem Brunnen abgelegt hatte. »Trink erst einmal etwas«, sagte Conor und warf ihm den Schlauch zu.
Festus fing ihn auf, zog den Stöpsel ab, probierte und verzog das Gesicht. Obwohl das Blut abgestanden schmeckte, trank er alles aus und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab.
Conor, der noch immer auf eine Antwort wartete, warf ihm einen erwartungsvollen Blick zu. »Was ist an dem Blut so besonders, dass du bei der Leiche gefunden hast?«
»Ich habe Fußspuren entdeckt, die sich von dem Toten wegbewegen. Diejenigen, die von der Blutlache ausgingen, verliefen sich im Sumpf, die anderen im Wald. Selbst wenn sich Boris und Kain abgesetzt hätten, hätte ich weitere Spuren finden müssen. Die beiden können sich nicht in Luft aufgelöst haben.«
»Nein, das können sie nicht. Glaubst du, der eine hat den anderen angegriffen, verletzt und ist geflohen?«
»Ich weiß es nicht, aber ein Mensch kann diesen Blutverlust nicht überlebt haben. Ich hätte eine weitere Leiche oder einen Untoten finden müssen.«
Ein Schatten legte sich auf Conors Gesicht. Er senkte den Blick und starrte in den Brunnenschacht hinab, nur um sich einen Augenblick später zu erheben.
»Was ist los?«, wollte Festus wissen. 
»Folg mir bitte! Ich muss dir etwas zeigen!«
»Dafür haben wir keine Zeit.«
»Doch die haben wir. Du musst wissen, dass sich mir in Totenhall, das ich auf deinen Befehl hin niedergebrannt habe, einige Krieger in den Weg gestellt haben. Sie trugen spitze Hauben mit Gucklöchern und brüllten: Tod den Feinden des Spinnenkönigs. Ich warf mich auf die Kultisten und metzelte alle bis auf einen nieder. Nachdem ich ihm ein paar Finger abgeschnitten hatte, führte er mich zu einer Krypta. Bitte lass mich dich dorthin bringen. Es wird dir einfacher fallen, meinen Worten zu glauben, wenn du siehst, was ich gesehen habe.«
Festus ballte die Hände zu Fäusten und kämpfte den Drang nieder, seinen Freund zu schlagen. »Zeig mir die Krypta!«, forderte er, woraufhin er sich von Conor durch die Gartenanlage von Vessels Anwesen weisen ließ.
Efeuranken überwucherten die Bäume, die sie auf ihrem Weg passierten. Die Äste von Birken und Eschen schlängelten sich auf obszön anmutende Weise ineinander, sodass sie gemeinsame Kronen bildeten. Allerorts sprossen Sträucher und Wildblumen aus dem Boden. »Was ist eigentlich mit der Untotenstreitmacht passiert, die du nach Totenhall geführt hast?«, fragte Festus.
»Die laben sich an den Leichen ihrer Opfer«, antwortete Conor, hob die Arme im rechten Winkel zum Körper in die Höhe und imitierte das Stöhnen der Untoten. »Bald wird der Ort nur so von Wiedergängern wimmeln. Brauchst du sie noch?«
Festus schüttelte den Kopf. »Sie haben ihren Zweck erfüllt. Wir lassen sie zur Abschreckung hier. Die Menschen sollen wissen, dass die Todeswache sie nicht vor den Untoten schützen kann.«
Sie marschierten so lange durch die verwilderte Anlage, bis sie ein turmhohes Bauwerk erreichten, dessen zweiflügliges Tor aus geschwärztem Metall bestand.
»Die Familienkrypta der Tallis«, sagte Conor, als er den linken Torflügel nach außen zog und das Gebäude betrat.
»Tallis?«, fragte Festus und folgte ihm, ohne sich an der Dunkelheit im Innern zu stören.
»Die Vessels müssen die Ländereien nach der Gründung des Königreichs Nosfalas besetzt haben«, antwortete Conor. »Zu dem Zeitpunkt mussten die Tallis längst in die freien Baronien geflüchtet sein. Sieh dir die Inschriften in der Grabkammer an. Der Jüngste ist seit 193 Jahren tot.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Festus, als er die abwärtsführende Wendeltreppe zur Krypta hinab schritt.
»In Morisius habe ich vor ewigen Zeiten eine Tallistochter gevögelt, womit ich mir die Feindschaft ihrer Sippe zugezogen habe. Sie behaupteten, ich hätte sie geschwängert und der Familie Schande bereitet. Dabei sollten sie froh sein, dass ihre Fruchtbarkeit unter Beweis gestellt wurde. Ihr Verlobter konnte sich glücklich schätzen.«
»Warum kommt mir der Familienname so bekannt vor?« Festus ignorierte Conors Geschichte, die ihn nicht im Mindesten überraschte.
»Nachdem die Tallisvampire Totenhall verlassen hatten, wurden sie von Henner Finstertor, Maditas Vater, mit Schloss Pest belehnt. Sie beherrschen dein altes Zuhause inzwischen seit mehreren Generationen.«
»Seit mehreren Generationen? Das spricht für eine ungewöhnlich hohe Sterberate.« »Scheint so«, antwortete Conor schulterzuckend.
Je tiefer sie in das Gemäuer eindrangen, desto stickiger wurde die Luft. Es roch nach Scheiße, Pisse und Fäulnis.
»Was stinkt hier so?«, wollte Festus wissen. Mit den Fingern hielt er sich die Nase zu.
»Die Mumien der Tallis sind es nicht. So viel kann ich dir verraten.«
Festus warf einen Blick an Conor vorbei, der mit den Spitzen seiner Spinnenbeine über das Mauerwerk kratzte. Am Ende des Ganges kniete ein schlanker, blondhaariger Mann. Der entblößte Oberkörper wurde von zwei Ketten, die an den Wänden angebracht waren und die Handgelenke umschlossen, in die Höhe gezogen. Er hielt den Kopf gesenkt, sodass sein Antlitz dem Boden zugewandt war. Der Geruch verriet Festus, dass er einer Leiche gegenüberstand, daran änderten auch die Laute nichts, die der Untote ausstieß. Ruckartig hob der Wiedergänger den Kopf und begann an den Ketten zu zerren. Er schien nicht zu bemerken, dass das Metall der Handschellen in sein Fleisch schnitt.
Wortlos trat Conor an ihn heran, packte ihn am Kinn und drehte das Gesicht in Festus’ Richtung. »Erkennst du ihn wieder? Er ist nicht mehr so hübsch wie früher, aber die blonden Haare und die schiefe Nase sind ein eindeutiger Hinweis.«
Festus holte tief Luft und biss die Zähne zusammen. Indem er sich auf den Wiedergänger konzentrierte, unterdrückte er die Emotionen, die sich an die Oberfläche seines Bewusstseins kämpften.
›Dafür ist keine Zeit, rief er sich zur Ordnung, reiß dich zusammen.‹ Trotz der fortgeschrittenen Verwesung erkannte er den Untoten.
»Der Spinnenkönig hat uns die ganze Zeit über an der Nase herumgeführt«, sagte Festus. »Boris stand ihm allein gegenüber«, antwortete Conor, der den Kopf des Untoten losließ. »Das kann er nicht überlebt haben. Der Feind ist zu stark.«
Kopfschüttelnd wandte sich Festus ab. »Vielleicht wurde Boris als Geisel genommen.«
»Das glaubst du doch selbst nicht«, widersprach Conor. »Warum sollte der Spinnenkönig einen Todeswächter als Geisel nehmen? Boris ist nur ein Mensch, der für unseren Feind keinen Wert besitzt.«
Mit einem Seufzen schloss Festus die Augen und ließ den Kopf hängen. »Du hast recht. Selbst wenn Boris entführt wurde, können wir nicht davon ausgehen, dass er die Gefangenschaft überleben wird. Ich hoffe für ihn, dass er tot ist, damit er nicht Colins oder Widos Schicksal teilen muss.«
Als er die Augen wieder öffnete, entdeckte er einen bewusstlosen Mann mit Vollbart und Glatze, der in gekrümmter Haltung auf dem Boden lag. Festus duckte sich unter den Ketten hinweg und ging in die Hocke.
Die Brust des Mannes hob und senkte sich mit jedem Atemzug. Mit seinen breiten Schultern und den fleischigen Pranken erweckte er einen kräftigen Eindruck. Die Fesseln hatten sich in die Gelenke geschnitten. An der rechten Hand fehlten ihm Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Das musste der Kultist sein, von dem Conor gesprochen hatte.
In dem Augenblick, in dem Festus den Fremden betrachtete, hörte er, wie Conor eine Waffe von seinem Schwertgurt löste.
»Was hast du vor?«, fragte er, nachdem er sich herumgedreht hatte.
Conor legte den Kopf schief und fuhr mit dem Finger über die Schneide seiner Axt. »Wonach sieht es denn aus? Ich erlöse ihn von seinem Elend.«
»Warte noch …«
»Warum?« Conor runzelte die Stirn. »Was hast du vor?«
»Nichts … Bitte spalte ihm den Schädel, aber enthaupte ihn nicht.«
Verwirrt zog sein Freund eine Augenbraue in die Höhe und zuckte mit den Schultern. Er schlug zu, woraufhin der Körper des Untoten ein letztes Mal bebte. Conor steckte die Axt weg, befreite den Jüngling von seinen Ketten und legte ihn auf den Boden. Danach riss er mithilfe seiner Spinnenbeine die unbeschriftete Steinplatte einer Sargnische aus ihrer Verankerung.
»Was machen wir mit dem da?«, fragte Festus mit Blick auf den Gefesselten.
»Womöglich lässt sich noch etwas Nützliches aus ihm herausquetschen. Ich sperrte ihn hier mit der Leiche ein, doch der Gestank muss ihm das Bewusstsein geraubt haben.«
»Da magst du recht haben«, erwiderte Festus und zog dem mutmaßlichen Kultisten so lange am Bart, bis dieser die Augen aufschlug und panisch an den Fesseln zerrte.
»Bist du bereit zu reden?«, fragte Conor den Gefesselten, dessen Gesicht sich hasserfüllt verzerrte.
Offenbar hatte er die Stimme des Vampirs erkannt, der ihn in der Krypta eingesperrt hatte. »Fick dich, Blutsauger!«
Der Gefangene rückte so weit wie möglich an die Wand und sah sich hektisch um. Wahrscheinlich konnte er ihre Position in der Dunkelheit nur anhand ihrer Stimmen erahnen.
Schweigend erhob sich Festus und kniete neben den lebenden Leichnam auf dem Boden. Mit mehreren Dolchschnitten öffnete er die Bauchdecke des Toten und legte die aufgeblähten Gedärme frei. Im Anschluss entfachte er ein magisches Feuer, das als bläuliche Kugel an der Decke der Grabkammer schwebte und den Raum erhellte. Der Kultist sollte sehen können, was ihm bevorstand.
»Du wirst reden«, sagte Festus und zerrte den Mann zu dem Kadaver.
Ohne Vorwarnung stieß er den Gefangenen mit dem Gesicht voran in die Eingeweide des Toten.

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