Es wurde eine unruhige Nacht für Jeral. Träume jagten sich in seinem Kopf im Kreis, Träume von einem Mörder, von Dämonen, von den Tücken der See, von blondem Wuschelhaar und einem schelmischen Lächeln auf vorstehenden, weichen Lippen. Das Erwachen im grauen Licht der Dämmerung stellte nur die letzte von zahllosen Unterbrechungen seines ruhelosen Halbschlummers dar.
Er fühlte sich etwas besser, nachdem er den Schweiß der Träume von seinem Körper gewaschen hatte und saubere Kleidung trug. Den Tee zum Frühstück ließ er doppelt so lang ziehen wie gewöhnlich. Bis durch die Fenster der erste Sonnenschein und die ersten Schreie der Möwen hereindrangen, war Jeral wach für die heutige Fahrt.
Während er das Geschirr wegräumte, stellte er den Entschluss, den er im Lauf seiner unruhigen Nacht gefasst hatte, noch einmal auf die Probe. Sinnvoll wäre es gewesen, heute ein weiteres Mal bei Drahniers Messeinrichtung vorbeizusehen und eventuell nach weiteren zu suchen.
Einmal mehr verfluchte er seine Ungeduld, während er den Proviant im Tuchbeutel verstaute. Wahrscheinlich hätte er zudem am besten daran getan, den Umgang mit dem Boot noch eine Weile zu üben.
Er legte Kerzen, Zunder, Feuerstein und Stahl ganz oben in den Beutel und zog die Verschnürung zu. Wahrscheinlich war seine Art, an die Dinge heranzugehen, pure Torheit.
Aber schließlich ging er schon lange nicht mehr die Wege, die in der Akademie als vernünftig galten. Jeral schulterte den Tuchbeutel, ergriff seine Harfe und stieg die Treppe hinab zur Eingangstür.
Draußen schien ihm die Sonne warm ins Gesicht und ein milder Wind aus Südwest erfasste sein aschblondes Haar und ließ ihm die blaue Robe um die Beine flattern. Laut und klar erhoben sich die Schreie der Möwen über das Schnauben der Dünung, das vom Ufer herauftönte. In den Salzduft des Meeres hatte sich der faulige Geruch von Seetang gemischt.
Jeral verschloss die Tür hinter sich, umrundete den Turm und stieg den Hang hinab zum Strand, wo die Sirene auf ihn wartete. Der Sandstreifen war hier nur wenige Schritte breit und senkte sich steil ins Wasser hinab. Das Boot lag schief zwischen den Trümmern der oberen Turmstockwerke auf dem Sand, den Bug landeinwärts zum Turm emporgerichtet und gleichgültig gegenüber dem nahen Donnern der Brandung.
Der Magier legte die lederverhüllte Harfe und den Tuchbeutel ins Boot unter die Steuerbordbank. Robe und Stiefel fielen daneben, ehe er die Hosen aufkrempelte und sich entschlossen gegen den Bootsrumpf stemmte. Das Heck voran, schleifte das Boot durch den Sand und ließ sich sanft in die wiegenden Arme des Wassers gleiten. Mit einem Sprung, der ihn über die Bordwand trug, stieß Jeral die Sirene endgültig vom Ufer ab und griff nach dem Paddel, um den Bug mit einigen Schlägen zur See hinauszuwenden.
Er nahm sich die Zeit, sorgfältig mit einem Tuch seine Füße abzutrocknen und sich wieder anzuziehen. Sein Blick ging nach Nordwesten hinaus, ohne dort etwas anderes zu finden als den glatten Horizont; um Valstrom von hier aus zu sehen, musste man schon einen erhöhten Aussichtspunkt erklettern wie etwa den Turm.
Er drehte sich um und sah zu der kantigen Silhouette hinauf, die sich schwarz vom aufziehenden Gold des neuen Tages abhob. Vergeblich lauschte er in seinem Inneren auf das Gefühl, ein Zuhause zu verlassen. Der Turm war ihm eine Wohnstatt, solange er die Sirenen studierte, Wände, die ihn beherbergten und vor Wind und Wetter schützten. Mehr nicht.
Er wandte sich ab, griff nach dem Fall und zog das Segel auf. Der Wind fing sich in der Fläche des Tuchvierecks, ließ es flattern und drückte das Rundholz der Rah nach Steuerbord. Jeral begab sich zum Heck, ließ sich auf die Backbordbank nieder, holte die Schot dicht und ergriff die Ruderpinne. Das Segel straffte sich und die Sirene nahm Fahrt auf, um zielstrebig durch die Wellen zu pflügen. Der Magier manövrierte das Boot ein kurzes Stück gerade vom Ufer weg, dann setzte er Kurs nach Nordwesten.
Das Grollen der Brandung blieb allmählich hinter ihm zurück und verschwand unter den Schreien der Möwen und dem Gurgeln des Kielwassers. Rund fünf Knoten, schätzte Jeral. Bei dieser Geschwindigkeit würde er in weniger als zwei Stunden am Ziel angelangt sein — wenn er ernsthaft vorgehabt hätte, es zu erreichen.
Der letzte, farblose Dämmer am westlichen Horizont räumte langsam seinen Platz für das Hellblau des Tageshimmels, ungetrübt von Wolken und bevölkert von zahllosen Vögeln. Das eintönige Tiefblau der weiten See zerfiel in der Nähe der Sirene in das vielfarbige Glitzern handgroßer Kräuselwellen auf den mächtigen Wogen der Dünung. Immer wieder spritzte Gischt über Jerals Gesicht und Hände und hinterließ im Vergehen brennende Spuren von Kälte und Salz. Gelegentlich schnellten Fische von Welle zu Welle, darauf bedacht, weder den Möwen zum Opfer zu fallen, noch den für Jeral unsichtbaren Feinden in der Tiefe.
Der Magier richtete den Blick wieder nach vorne. Vielleicht ging es allen Kreaturen so. Vielleicht war das Leben immer ein Tanz zwischen verschiedenen Feinden, in dem ein Moment der Unachtsamkeit das Leben kosten konnte. Der Anblick einer Möwe, die in ihrem Schnabel ein zappelndes, silbriges Etwas davontrug, ließ einen Anflug von Bitterkeit in ihm aufsteigen.
Hinter ihm entfernte sich langsam das Ufer. Das Innere der Bucht war schon lange hinter dem Horizont verschwunden und auch die Küste südlich des Leuchtturms verbarg sich bereits halb hinter dem Rand der Welt. Der Schatten des Ufers, der sich im Südosten vom Gold des Himmels abhob, glich mehr und mehr einer lang gezogenen Insel, bekrönt von der abgerundeten Spitze des Leuchtturms.
Das Abklingen der Möwenschreie vollzog sich so allmählich, dass Jeral es trotz aller Wachsamkeit kaum bemerkte.
Hinter ihm füllten die Vögel den Himmel mit der alten Dichte, doch als Jeral den Blick nach vorne wandte, begegnete er einem leeren Himmel. Es war genau, was er erwartet hatte, und er hatte geglaubt, diesem Moment mit der Gelassenheit des erfahrenen Zauberkundigen entgegenzusehen. Doch das plötzliche Rasen seines Herzens strafte ihn Lügen.
Ein letztes Mal ging er in Gedanken seine Planung durch. Die erste klassische Abwehr gegen Sinneszauber — im Fall eines Liedes dessen Störung durch andere Geräusche — gehörte zu den Dingen, die er heute gar nicht erst versuchen würde. Sie war bereits an jenem Tag kläglich gescheitert, an dem er vom Turm aus zugesehen hatte, wie jenes Schiff Valstrom passierte; die bloße Schönheit des Sirenengesangs vertrieb jeden Gedanken daran, selbst laut zu werden.
Heute würde er es mit der zweiten klassischen Abwehr versuchen. Sie war subtiler und in den meisten Fällen wirkungsvoller als die erste — und würde ebenfalls scheitern, dessen war sich Jeral sicher. Er war mit Bestimmtheit nicht der erste Magier, der versuchte, den Sirenen auf diesem Weg zu widerstehen. Er würde nur der Erste sein, der es überlebte, um zu berichten, warum die zweite klassische Abwehr gescheitert war. Vorausgesetzt, ihm war bei seinen Überlegungen kein großer Fehler unterlaufen …
Die Schreie der Möwen verklangen langsam in der Ferne. Bis auf das Rauschen des Kielwassers entlang des Bootsrumpfes war es still geworden. Jeral behielt den glatten, makellosen Schnitt zwischen Himmel und See im Auge und wartete.
Dann schob sich die erste sonnenbeschienene Felsspitze über den Rand der Welt. Binnen weniger Augenblicke erhob sich die ganze schroffe Schönheit der Granitklippen von Valstrom aus den Fluten und fügte sich zu einem schmalen, im Sonnenschein grellgolden gleißenden Streifen am Horizont. Jerals Griff um Schot und Ruderpinne wurde unwillkürlich fester, als er sich wappnete.
Und es begann.
Der Klang schien aus dem Wasser zu ihm aufzusteigen. Er schien vom Himmel herabzuwehen, um in Jerals Ohr zu zerschmelzen. Sanft und fein und zunächst unendlich leise ertönte das wehmütige Flehen der ersten Sirene.
Komm zu mir.
Jeral drängte die plötzliche Wärme in seinem Herzen zurück und besann sich auf die zweite klassische Abwehr gegen Sinneszauber. Sei wieder ein Kind, sagte er sich. Es gibt keine wichtigen und unwichtigen Geräusche. Es gibt nur Geräusche. Es gibt nur Das Geräusch, den Klang der umgebenden Welt, die Gesamtheit all dessen, was du hörst.
Der Gesang der einsamen Sirene schwoll an, wurde lauter und kraftvoller und immer deutlicher. Er war reine, wortlose Melodie und drückte doch alles aus, woran die unbeholfene Sprache der Sterblichen so oft versagte. Komm zu mir, bitte komm zu mir. So lang schon träume ich von dir. So lang schon wünsche ich mir, dir zu begegnen. Bitte komm zu mir.
Eine zweite Sirene fiel ein und ihr Klang formte zusammen mit der ersten Sirene einen endlosen, doch stetig sich wandelnden Akkord. Ein dritter Ton gesellte sich dazu und die Sehnsucht und Zärtlichkeit, die aus dieser Melodie sprachen, sickerten langsam, aber unaufhaltsam in Jerals Seele. Sei wieder ein Kind, ermahnte sich der Magier in hilflosem Trotz, während er spürte, wie ihn das Begehren zu überwältigen drohte. Der Klang hat keine Bedeutung. Es gibt keine Bedeutung, keine Namen, keinen Sinn. Es gibt nur Klang, Form, Farbe, Gefühl. Es gibt keine Unterschiede. Es gibt nur …
Es gibt nur das Lied.
Dies war der letzte klare Gedanke, den er fasste, ehe die Flut seiner Gefühle über seinem Denken zusammenschlug.
Ich bin so froh, sang die Sirene wortlos weiter, die Stimme untrennbar mit denen ihrer Schwestern verwoben. Endlich kommen wir zusammen. Du weißt nicht, wie sehr ich mich all die Zeit nach dir gesehnt habe. Ich konnte nicht zu dir. Ich wünschte es mir so sehr, doch ich konnte nicht zu dir. Doch jetzt, endlich, kommst du. Ich bin ja so froh.
Vorfreude regte sich in ihm, ließ ihn das klobige Gefährt verfluchen, das ihn nicht schneller seinem Ziel entgegentrug. Die Harfe lag unangetastet, vergessen unter der Bank. Wie in einer Eingebung sah er die Frau vor sich, deren sehnsüchtiges Flehen er hörte, sah vor dem Auge seines Herzens einen gestaltgewordenen Traum, eine Frau, die er gekannt und geliebt hatte, lange bevor er geboren war, die für ihn bestimmt war wie er für sie. Stolz und unbeugsam, eine Frau nicht ohne Schwächen, doch die es gelernt hatte, ihre Schwächen zu meistern, bis auf die eine, unstillbare Sehnsucht nach ihm … Komm zu mir, bitte komm zu mir, ich brauche dich so sehr …
Und dann umfassten ihn von der Seite her zwei zärtliche Arme, ein schlanker Körper schmiegte sich an ihn und ein Gesicht unter blondem Wuschelhaar vergrub sich an seiner Brust. „Bitte, Jeral, nein!“, zerschlug Trevnas Stimme die Harmonie des Sirenengesangs. „Wende das Boot! Du fährst ins Verderben!
Komm zu mir. Beachte sie nicht. Sie hat dich verlassen. Sie ist gar nicht bei dir. Komm zu mir.
„Jeral, bitte!“ Trevnas tränenüberströmtes Gesicht hob sich ihm entgegen. „Du weißt, was ich wirklich für dich empfinde! Komm zurück! Meine Mutter wird uns nie wieder auseinanderbringen, das verspreche ich dir!
Hör nicht auf sie. Sie hatte ihre Gelegenheit. Sie hat dich verschmäht. Komm zu mir.
„Jeral …“
Trevnas eindringlicher, fast verzweifelter Seufzer durchdrang die Schleier, die das Lied um seine Seele gelegt hatte. Zögernd lockerte sich der Griff seiner Hände um Schot und Ruderpinne.
Im nächsten Moment ließ er beides fahren, um Trevnas Leib fest an sich zu drücken. Das Boot verlor an Schnelligkeit, als das Segel, vom Zug der Schot befreit, kraftlos zu flattern begann. Jerals Mund suchte den Trevnas.
Nein! Begreif doch, sie hat dich verlassen. Es ist vorbei. Vorbei. Sie ist Vergangenheit. Lass mich deine Zukunft sein. Komm zu mir.
Es war der Moment, den der Magier vorhergesehen hatte, der Moment, in dem sich die beiden Kräfte die Waage hielten. Ein einzelner klarer Gedanke erkämpfte sich seinen Weg an die Oberfläche von Jerals Denken und übernahm das Regiment. Seine Arme lösten sich von Trevnas Körper, ehe ihre Lippen die seinen gefunden hatten. So weit es ihre Umarmung zuließ, beugte er sich hinab und tastete nach dem Beutel unter der gegenüberliegenden Bank.
Ich brauche dich. Komm zu mir. Bitte! Das sehnsüchtige Flehen der Sirene ließ Jeral innehalten, doch Trevnas liebkosende Hände in seinem Nacken nahmen dem Gesang seine Kraft. Mit zitternden Fingern öffnete er die Verschnürung des Beutels und entnahm ihm eine Kerze, Zunder, Feuerstein und Stahl.
Kehr nicht um, bitte! Verlass mich nicht! Ich flehe dich an, bleib bei mir! Unschlüssig hielt Jeral Feuerstein und Stahl vor sich hin. Die Sehnsucht und Leidenschaft im Lied der Sirene übertraf alles, was je ein Sterblicher gedichtet und gesungen hatte und wieder kam ihm zu Bewusstsein, dass all dies ihm gewidmet war. Jeral konnte sich nicht überwinden, diesen gefühlvollen Klang mit dem Schlag eines Feuersteins zu stören.
Trevnas Lippen drückten ihm einen Kuss auf die Wange.
Der metallische Zusammenprall von Stein und Stahl zerfetzte die feinen Schleier des Lieds der Sirenen. Ein Funke sprang auf den Zunder und hastig, mit zitternder Hand, entzündete Jeral die Kerze daran. Das heiße Wachs verbrannte ihn, als er es mit der hohlen Hand auffing, doch er scherte sich nicht darum. Ungelenk, halb mit den Fingern und halb mit der Handfläche, knetete er sich die warme, weiche Masse in die Ohren. Das Lied der Sirenen und das liebevolle Flüstern von Trevnas Stimme versanken im rasenden Hämmern seines Herzens.
Seine Gedanken klärten sich weit genug, dass er das Segel wieder dichtholen konnte, um Fahrt aufzunehmen. Weiterhin von Trevnas zärtlichen Armen umfangen, fiel er nach Steuerbord ab. Valstrom schob sich vor seinem Bug nach links; der Kurs der Sirene wies nun an der Insel vorbei auf die offene See.
Noch immer fühlte er die Glut von Trevnas Kuss auf der Wange und die Wärme ihrer Umarmung jagte ihm Wellen der Wonne durch den ganzen Körper. Er wollte einfach nur weiterfahren, den Moment in die Ewigkeit dehnen, sie nie wieder verlieren …
Es kostete ihn seine ganze Überwindung, Trevnas Gestalt mit einem kräftigen Schlag des Ellbogens über Bord zu stoßen. Die Ohren vom Wachs verschlossen, hörte er nicht das Platschen, mit dem sie in den Wogen verschwand. Es ging fast über seine Kräfte, den Blick nicht zu ihr zurückzuwenden, während er die Halse fuhr, die ihn wieder auf Kurs zur Küste brachte.
Irgendwie schaffte er es, zurück zum Leuchtturm zu segeln. Irgendwie setzte er die Sirene wieder auf den Strand, ohne an den Turmtrümmern zu zerschellen. Erst, als er neben dem Boot saß und dabei war, sich das Wachs aus den Ohren zu prockeln, brach er zusammen und blieb, von Schluchzen geschüttelt, im Sand liegen.